SCHLÜSSEL DER INNEREN AUTORITÄT UND DER ÄUSSEREN FÜHRUNGSKOMPETENZEN.
Die Magie des Mitgefühls: Die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer verstehen.
Ich bin in El Roque, einer kleinen und abgelegenen Insel der Karibik, ein paar Tage Urlaub, um das Jahr mit neuen Reflexionen, die sich aus meinem Leben ergeben, zu beginnen. Ich bin am unperfektesten und doch perfekten Ort, ich kam für 13 Tage, aber werde bereits am dritten Tag wieder gehen, denn es ist nicht der Ort, an dem ich meine Ferien verbringen möchte. Ich hatte einen Plan, aber jetzt mache ich alles anders. Ich werde nun nach Curacao gehen. Ich habe diese Planänderung als etwas sehr Bereicherndes erlebt, weil ich dadurch sehen kann, dass ich mich selbst verstehe, und ausgehend von diesem Verständnis kann ich die offensichtlichen Unvollkommenheiten der Umgebung verstehen, ohne wütend auf irgendjemanden oder irgendetwas zu werden. Denn es ist einerseits eine perfekte Umgebung und andererseits das Unperfekteste, was ich je gesehen habe. Die Insel ist nur etwa 500 Meter lang, am Strand hat es eine Diskothek, deren Musik jede Nacht ohrenbetäubend ist. Sie lässt nicht nur niemanden schlafen, sondern ich denke, sie verscheucht auch Hunderte von Meerestieren in diesem wunderschönen kristallklaren und türkisfarbenen Meer. Ich könnte eine lange Pro- und Kontra Liste erstellen, aber ich empfinde nur Freude und Zufriedenheit, keinen Tag länger an diesem Ort zu bleiben, als es sich für mich richtig anfühlt. Dasselbe gilt für Beziehungen und Situationen, denn wenn wir länger darin gefangen bleiben, als wir wollen, fügen wir uns selbst Schaden zu. Man muss genau rechtzeitig gehen. Es ist grossartig, dies zu verstehen.
Die Frau auf diesen beiden Fotos ist Leila, jetzt etwa 27 Jahre alt.
Vorher (vor 2 oder 3 Jahren). Jetzt 2019
Ich möchte dieses Thema und die Gelegenheit nutzen, um Leila zu fragen: Was ist in deinem Leben passiert, dass eine so eindrucksvolle Wende ausgelöst wurde? Betrachte dich, wie du warst und wie du jetzt bist, in deinem Inneren war die gleiche Essenz, aber sie war in einem Schlafzustand und in Vergessenheit geraten. Kann man wissen oder verstehen, was dir zugestossen ist? Wenn du es weisst, kannst du es erklären, wenn du es verstehst, werden Worte nicht ausreichen, um es zu beschreiben, denn das Verständnis ist die Sprache der Stille, welche alles sagt, ohne zu sprechen. Es ist auch wahr, und ich habe es überprüft, dass das Mysterium des Verständnisses die Macht, der aus der inneren Stille stammenden Worte nutzt, um das Bewusstsein zu erwecken und eine Gegenwart zu erzeugen, welche das, was unendlich und ewig ist, beherbergt… die Essenz. In diesem Moment ist das, was in meiner Umgebung am wenigsten vorhanden ist, die Stille, deswegen möchte ich diese lärmige äussere Situation nutzen, um mich in meiner inneren Stille niederzulassen und diese Antwort weiterzuentwickeln.
Du hast nichts machen müssen, damit diese Transformation geschieht und genau das ist das Mysterium: Die wichtigsten und erstaunlichsten Dinge im Leben passieren einfach so. Du hast dich nur geöffnet und ergeben. Es sind Taten, die den Verzicht auf das Handeln repräsentieren, Taten, die nicht zur Welt des Handelns, sondern zur Welt des Nicht-Handelns gehören. Warum sind sie geschehen? Wie ist es passiert? Was hast du getan, damit es geschah?
Viele Leute sagen mir genau dasselbe: „Ich weiss nicht, was mit mir passiert ist oder wie, aber plötzlich sehe ich mich als jemand anderen oder besser gesagt, ich lasse die Lügen hinter mir, um das zu sein, was ich immer gewesen bin und vergessen hatte.“
WISSEN und VERSTEHEN, zwei Verben, die sehr unterschiedliche Prozesse repräsentieren. Der klaffende Unterschied zwischen zwei Begriffen, die gleich oder ähnlich zu sein scheinen, verdient es genauer betrachtet zu werden, um zu wissen, was es bedeutet etwas zu verstehen und um zu verstehen, was es bedeutet etwas zu wissen.
Wissen steht im Zusammenhang mit dem Begrenzten, dem Rationalen, den Wörtern, dem Definierbaren. Verstehen steht im Zusammenhang mit dem Unbegrenzten, dem Irrationalen, der Gegenwart, dem Undefinierbaren. Man weiss das Bekannte und man versteht das Unbekannte. Das Wissen arbeitet für den Verstand, die Erinnerung und den Intellekt, das Verständnis steht im Dienste des Bewusstseins, des Ursprungs und des Mysteriums.
Das Wissen hat einen grossen Nutzen in Bezug auf die Funktionalität von Dingen. Sprachen, Signale, Befehle, Gesetze kann man lernen und wissen, aber nicht den Sinn des Lebens oder das Gefühl der Liebe. Die grösstmögliche Verwirklichung des Wissens besteht darin, zu wissen, was verstehen bedeutet. Aber zu wissen, was das Verständnis ist, garantiert nicht das Verstehen, da dies zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Um zu verstehen, muss man den Sprung in die Leere wagen, den Sprung von Kontrolle und Unterdrückung zu Kontrolllosigkeit und fliessen lassen. Wissen ist mental, verstehen ist spirituell. Wenn ich etwas weiss, denke ich, wenn ich etwas verstehe, fühle ich. Durch das Wissen erreiche ich etwas, wenn ich verstehe, erreicht mich etwas. Um etwas zu wissen, muss man etwas tun. Um etwas zu verstehen, muss man nichts tun.
Wissen und verstehen sind Abläufe, die sich gegenseitig ergänzen, jedoch getrennt und unabhängig voneinander funktionieren, es sind Abläufe, die sich überschneiden können oder nicht. Man kann etwas wissen, ohne es zu verstehen und man kann etwas verstehen, ohne es zu wissen. Und man kann etwas auch gleichzeitig wissen und verstehen. Es kann sein, dass du gerade eine dieser drei Möglichkeiten erlebst. In diesem Fall würde ich dich fragen: Was verstehst du? Da der Prozess des Verständnisses irrational ist, ist es nicht erforderlich, dass du denkst, dass du daran bist etwas zu verstehen, denn es ist etwas, das jetzt gerade auf einer höheren oder metaphysischen Ebene geschieht und sich in der Manifestation von etwas Tiefgründigem in deinem Inneren widerspiegelt.
Vor kurzem war meine 10-jährige Tochter Amelýs in einer Lektion der Bewussten Schule dabei. Zum ersten Mal hörte sie mehr als zwei Stunden den Verrücktheiten zu, die ihr Vater erzählt. Sie kuschelte sich an ihre Mutter und machte es sich bequem, als ob sie schlafen wollte, aber sie schloss ihre Augen nie, nicht einmal für einen kurzen Moment. Ausgehend von ihrer Unschuld hörte sie aufmerksam etwas sehr Komplexem zu. In dieser Lektion setzten wir uns damit auseinander, dass die Menschen aufhören müssen, das zu sein, was sie nicht sind, um das zu werden, was sie sind. Amelýs war sehr aufmerksam und sagte mir im Anschluss, dass sie nicht alles verstehe, aber sich für das Thema interessiere. Während dem Abendessen fragte sie mich: Warum wollen die Menschen aufhören zu sein, um sein zu können? Ich verstehe es nicht. Die Frage des Mädchens schenkte uns eine Stunde voller Gespräche und Vergnügen, um das Unerklärliche zu erklären. Sergio, Daniela, Paula und ich wurden plötzlich zu Kindern, um einem Mädchen das Licht des Verständnisses näherzubringen. Und es scheint, als hätte sie etwas verstanden. Dies wurde mir klar, als ich sie am Ende fragte: Hast du es verstanden Amelýs? Und sie mir antwortete: „Ja, aber ich kann es nicht erklären.“
Genau so läuft das Verständnis ab, es ist ein Phänomen des Bewusstseins, es geschieht, ohne, dass etwas getan wird und öffnet uns für das Mysterium von all dem, was wir nicht verstehen. Osho sagte dazu etwas sehr Passendes: „Um zu verstehen, braucht es nur eine Sache: Gut zuhören, nichts mehr.“ Zuhören ist keine Tat, sondern eine unschuldige Öffnung gegenüber dem Unbekannten. Wenn wir nur das hören wollen, was uns gefällt, wir bereits wissen und kennen oder mit dem wir einverstanden sind, hören wir nicht zu. Das Zuhören ist eine Brücke zum Unbekannten, es bringt uns dem Mysterium näher und macht uns empfänglich Neues aufzunehmen, bis ins tiefste Innere unseres Herzens.
Deshalb betone ich nochmals, dass, um zu verstehen nichts getan werden muss. Man muss nichts verstehen, denn in dem Moment, in dem wir uns vornehmen und danach streben etwas zu verstehen, entsteht eine Persönlichkeit, die nach Verständnis sucht und alles in Bewegung setzt, um zu verstehen. Diese, auf das Erreichen von etwas ausgerichteten Tätigkeiten verhindern, dass Verständnis entsteht. Dies ist ein sehr tiefgreifendes taoistisches Konzept über das Nicht-Handeln.
TAOISTISCHES SYMBOL WU-WEI, Nicht-Handeln: Der Weg der Liebe, des Herzens und des Verständnisses
Wu-wei (auf Chinesisch „Nicht-Handeln“) ist ein Ausdruck, der einen wichtigen Aspekt der taoistischen Philosophie beschreibt, welche besagt, dass der beste Weg, mit einer Situation umzugehen, darin besteht, nicht zu handeln, nichts zu erzwingen oder zu beeinflussen. Nicht zu handeln ist nicht das Gleiche wie nichts zu tun. Pflanzen wachsen in Harmonie mit Wu-Wei, das heisst, sie bemühen sich nicht zu wachsen, sie tun es einfach. Wu-Wei ist also die natürliche Art und Weise Dinge zu tun, ohne etwas mit künstlichen Vorrichtungen zu erzwingen, welche die ursprüngliche Harmonie und die Prinzipien der Natur verzerren.
In der Zen-Kalligraphie wird Wu-wei als Kreis dargestellt, bei dem Anfang und Ende sich am selben Punkt treffen, wodurch eine innere und eine äussere Zone entsteht, das Innere und das Äussere des Kreises. Eine Grenze und zwei Realitäten. Das Innere kann als getrennt vom Äusseren oder als andere Sache als das Äussere wahrgenommen werden, weil sie durch eine Linie getrennt sind.
Wu-wei bedeutet, dass der isolierte Teil verstanden hat, dass er nur ein Teil ist und deshalb den Kampf gegen das Ganze aufgegeben hat. Jetzt handelt „das Ganze“ und „der Teil“ ist glücklich darüber. Es bedeutet, im Einklang mit dem Ganzen zu sein und sich dem Rhythmus der Ereignisse anzupassen, im Gleichschritt mit dem Leben zu sein. In dieser Entspannung des Zulassens, dass der Fluss dich mitnimmt, entsteht das Verständnis, denn es ist der Weg der Liebe, der keine Manöver und Manipulationen zulässt. Es ist eine besondere Art zu fliessen, ohne zu beeinflussen, zu leben, ohne zu stören und zu wachsen, ohne zu behindern. Wu-wei ist ein Begriff, der Verständnis erfordert, das Wissen kann diesen Punkt nie erreichen. Wu-wie bedeutet zu handeln, ohne zu handeln oder handelnd nicht zu handeln. Ein Widerspruch für den logisch und analytisch denkenden Verstand. Es bedeutet, das Geschehen zuzulassen. Es ist der Weg des Fliessens, auf welchem das Herz das Leben vom Anfang bis zum Ende leitet und so an wieder denselben Punkt erreicht.
Einige Kapitel des wichtigsten taoistischen Schriftstücks, des Tao Te Ching, welches Lao-Tsé zugeschrieben wird, spielen auf die „Abnahme des Handelns“ oder den „kleiner werdenden Willen“ als Schlüsselaspekte für den Erfolg des Weisen an. Die taoistische Philosophie besagt, dass das Universum anhand seiner eigenen Grundsätze harmonisch arbeitet (wie es auf dieser Insel der Fall ist). Wenn der Mensch die Welt mit seinem Willen konfrontiert, verändert er die bereits bestehende Harmonie. Das bedeutet nicht, dass Menschen auf ihren Willen verzichten sollten (deshalb verlasse ich diese Insel), es geht vielmehr darum, wie man sich in Bezug auf die vorhandenen kritischen natürlichen Prozesse verhält.
Wu-wei wurde auch als „kreative Stille“ oder die Kunst des „Loslassens“ übersetzt. Dies ist keine Verachtung für die Vernunft, es ist eher ein Weg, um zu verstehen, dass das Tao in allen Dingen und auch in denjenigen Personen, die diesen „Pfad“ wählen, vorhanden ist. Eine Art, sich Wu-wei bildlich vorzustellen, ist durch die Schriften von Lao-Tsé, in denen er aufzeigt, wie man ein Königreich regiert. In diesen Texten vergleicht er die Aktivität des Regierens mit dem Braten eines Fisches – zu viel Hitze und das Essen ist ruiniert – das heisst, Ordnung fördern, aber nicht unterdrücken. Um dies zu erreichen, müssen wir die Bedürfnisse der Menschen verstehen und sie bei unseren Handlungen respektieren. In dieser Prämisse verbirgt sich eine der grossartigen taoistischen Führungslehren.
Leila, ich glaube, dass dies alles die perfekte Vorbereitung ist, nicht nur um zu wissen, was es bedeutet zu verstehen, sondern auch, um die Bedeutung des Verständnisses für andere zu verstehen. Denn ohne das Verständnis für andere sind die Versöhnung und die Führungskompetenzen, die du erlangen wirst, unerreichbar.
Alberto José Varela